Die Aufgabe der Umgebung ist nicht, ein Kind zu formen,
sondern ihm zu erlauben, sich zu offenbaren.“
Maria Montessori
Liebe Mitchristen!
Diese Aussage der bedeutenden Kinder- und Reformpädagogin Maria Montessori hat mich nachdenklich gemacht. Das Zitat versetzt mich in Unruhe, weil ich es leicht in den Bereich unseres Glaubens, unserer aktuellen Kirchensituation und auch in den Bereich des geistlichen Lebens als Christ übertragen konnte. Auch in unserem persönlichen Glaubensleben geht es darum, zu reifen und zu wachsen. Dies betrifft besonders jene Gläubige, die sich bewusst für ein Leben aus dem Glauben entschieden haben. Herausgerufen sind wir als Getaufte und als Kinder Gottes aber ausdrücklich alle: „Der Geist selber bezeugt unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind.“ (Röm 8,16).
Was intensivierte meine Unruhe? Ein Kind zu formen, einen Menschen zu prägen, darin steckt eine große Herausforderung und gleichzeitig Gefahr. Wir ahnen die enorme Gefahr, Menschen zu manipulieren, sie in eine bestimmte Richtung zu drängen und dabei deren persönliche Grenzen zu verletzen und zu überschreiten. Diese Manipulation im Bereich des seelisch-geistlichen Lebens von Menschen kann bis zur Zerstörung der Person reichen, wenn die Freiheit des Willens und die Würde dieser Person außeracht gelassen werden. Dies bedeutet, niemand darf beispielsweise im Feld der Seelsorge und auch in allen anderen Bereichen nicht in eine Richtung gedrängt werden, die nicht wirklich dem Willen der Person entspricht. Hier kommt neben dem sexuellen Missbrauch in der Kirche das ebenfalls hochaktuelle Feld Geistlichen Missbrauchs, spiritueller Manipulation und Verzweckung in den Blick. Auch dieser Bereich gehört intensiv bearbeitet. Denn auch Geistlicher Missbrauch darf gerade in der Kirche nicht vorkommen. Zum Glauben gehört unverzichtbar die Achtung der Freiheit des Menschen dazu. Ich darf niemals manipulieren, was und wie jemand glauben soll! Ein solches Verhalten hebt zerstört letztlich den Glauben selbst und das Vertrauen in Menschen und in Gott.
Die Formung von Menschen, klassisch deren formatio, zu begleiten, ist einerseits ein unverzichtbarer seelsorglicher Dienst, weil es um die Reifung als Mensch und die Reifung im Glauben geht. Andererseits ist dieser Dienst immer eine Gratwanderung im oben beschriebenen Sinn, zu der Maria Montessori den Erzieherinnen und Erziehern, den Eltern, den Seelsorgerinnen und Seelsorgern einen wichtigen Hinweis gibt: Sie betont, Menschen, für die im geistlichen Bereich Verantwortung zu tragen ist, ist unbedingt „zu erlauben, sich zu offenbaren.“ Dies kann so verstanden werden, dass die entscheidenden Qualitäten eines Menschen als Gaben Gottes immer schon da sind. Die Person ist zu ermutigen, zu begleiten, selbstbewusst und eigenständig diese Gaben im inneren Gespräch mit dem Heiligen Geist zu entdecken, dass sie ans Licht kommen, dass sie seine Haltung werden und sein Leben bewusst prägen können. Umgekehrt sind über diesen Weg ebenso eigene Schwächen und auch Abgründe zu erkennen und ein Umgang damit zu lernen.
Die Aussage von Maria Montessori atmet Weite und Tiefe. Sie möge in unseren Gemeinden Anregung und Inspiration sein, darüber nachzudenken, wo wir uns gegenüber anderen und uns anvertrauten Menschen manipulativ verhalten. Erkennen wir dies bei uns selbst oder anderen, dann haben wir unser eigenes Verhalten zu ändern und das anderer Verantwortlicher in unserer Mitverantwortung zur Sprache zu bringen.
Vom Team der Seelsorgerinnen und Seelsorger grüßt Sie – in Christus –
Ihr
Diakon Patrick Oetterer